Mary Reed und Jolo

20. April 2010

Möchte anhand zweier wichtige Rollen aus „Land in Sicht“ die Thannhauser Inszenierung interpretieren.
1) Warum bietet die Lagerleiterin das wertvollste, was wir besitzen, als Kampfpreis mit den Piraten – und dann noch ohne Gegenleistung?

Duett "Wovon träumst du?"

Schon der große gemeinsame Mut der Jugendlichen zuvor war nicht so richtig echt. Nicht alle Zeltlagerleute zusammen sollten sagen, dass sie den Kampf gemeinsam aufnehmen. Ist es nicht eher so, dass zuerst einer ja sagt und ein gemeinsames Wort höchstens etwas zögerlich danach kommt? Und dann diese seltsame Zusage der Lagerleitung. Eigentlich eine kluge Frau, diese Rosi, sie weiß, wie man mit Kindern umgeht; den älteren Jungs im Lager kann sie den Schneid abkaufen. Hat sie hier den vollständigen Aussetzer? Will sie Zeit gewinnen? Will sie die Aufschneiderische spielen, damit die anderen eingeschüchtert sind? Letzteres wohl kaum, dann würde sie einen Gegenpreis fordern, und das tut sie überhaupt nicht.
Georg schlug eine Maximalinterpretation vor, die Marys Integrität rettet und sie nicht schwach werden lässt. Lieber alle als Sklaven an Bord der Piratenschaluppe als dass es einem an Leib und Leben geht. Bin damit nicht zufrieden. Leib und Leben ist nicht der wertvollste Schatz, den die Zeltlagerleute haben. Andersherum würde ich sagen: wir Zeltlagerleute würden, wenn wir verlieren, versuchen, euch Piraten das Angebot zu machen, in unserer Zeltlagergemeinschaft mitzuleben.
Warum sollte Rosi-Mary das denken? Weil sie Utopistin ist? Weil sie schon irgendwie ahnt, dass man die Piraten um den Finger wickeln kann? – Die ganze Situation ist tatsächlich utopisch, so viel, wie die Piraten mit ihren Waffen herumfuchteln ist es das reinste Wunder, dass nichts passiert. So furchtlos, wie die Zeltlagergemeinschaft zusammenbleibt, ohne das ein Einziger abhaut, ist eigentlich irrealistisch und auch unvernünftig. Traumatmosphäre, Musicalatmosphäre. Da darf man auf Utopien bauen.
Für mich ist es das Wendelied am Schluss, in dem so ein bisschen von dieser Utopie Marys wahr wird. „Von was träumt ihr wenn es (dunkel wird und alles ganz still)“ ist Kathi Stimmers „Du wirst den Tod in uns (wandeln in Licht)“ zumindest in den ersten sechs Tönen, wo Intervalle und Rhythmus identisch sind. Dieses Lied wäre auch Hoffnung für Jolo, die mit ihrem unendlich fernen Stern allein ist, wenn sie dann wieder im Jahr 1718 landet „… dem Leben gibst du ein neues Gesicht, die Tränen trocknen, die Trauer zerbricht. Denn du stehst auf (du bist Leben und Licht)“. Das Stück wird ja nicht umsonst in der Osterzeit aufgeführt. Wenn man Jolo durch Kathi Stimmers Brille sieht, wird ihr seltsamer Charakter verständlich. Doch um das zu sehen, sei zunächst Jolos Charakter dargestellt.
2) Jolo lässt sich von den anderen Piraten ihren Mumm nicht nehmen, ist sich nicht zu schade, die niedersten Arbeiten zu tun und verspottet zu werden, sie lacht sogar dazu. Gern bleibt sie als Schiffswache zurück. Dann folgt zur Nachtzeit ein recht tiefes Unglück, gepaart mit altkluger Lebenserkenntnis „dass nur die Liebe zählt, war mir lang nicht klar“, auch musikalisch recht dick aufgetragen. Drei Lebenseinstellungen, die nicht so recht zusammenpassen. Das fröhliche, jugendliche Leben – die Depression – und die abgeklärte Lebenserfahrung. Hätte Andrea (die Darstellerin) eine gestresste Jolo gespielt, hätten wenigstens die ersten beiden Bereiche zusammengepasst. Andrea weigert sich aber, die fröhliche und immer zuversichtliche Jolo aufzugeben. Viel lieber würde sie sich Jolos Verzweiflung schenken, aber die Musik lässt ihr keine andere Wahl. Die Musik setzt den Hintergrund zu ihren Worten „Nur Dunkelheit ist um mich, das Glück ließ mich im Stich“, sie stürzt diese Jolo in eine Tiefe – in der der „Stern in der Nacht“, ihr „einziger Freund“, von dem die Singgruppe singt, nur ein äußerst schwacher Trost bleibt. Auch dieser Stern ist mit viel Pathos unterlegt, vielleicht ist er doch ein stärkerer Trost? Ich jedenfalls habe, wenn ich das „Stern in der Nacht“ Lied so höre, die Befürchtung, dass der Stern unerreichbar, unpersönlich, letztlich kalt ist, wie der unendliche Weltraum dazwischen. Die Chance wäre, der Stern stünde für jemand – jemand, den man vielleicht heute noch nicht kennt, aber vielleicht später. Die Love-Story in der Freiluft-Inszenierung zwischen dem Mann Jolo und Rosi aus dem Zeltlager wurde in der KJT-Adaption gestrichen, nicht nur, weil Jolo weiblich besetzt wurde. Wenn man Jolos verzweifelte Lage ernst nimmt, kann man sehen, dass sie vor allem eine Gemeinschaft braucht, in der sie leben darf. Sie ist ein Mensch der Gemeinschaft, selbst das Zusammensein mit den Piraten enthält manche Momente, die ihr gut tun.
Die Altklugheit Jolos würde ich am liebsten ganz leugnen, sagen so einen Text sollte man streichen. Es gibt zwar, so denke ich, solche Sonderphänomene wie das Kind Anna in „Hallo Mister Gott hier spricht Anna“, von denen man nicht weiß, woher sie ihre Weisheit haben. Jolo hat ja auch eine beachtenswerte Klugheit, wenn sie zwischen den Parteien vermittelt. Aber passt es wirklich zu ihr, die Sehnsucht nach Liebe als Produkt einer langen Lebenserfahrung zu verkaufen? Ist Sehnsucht nach Liebe nicht das Primitivste, das, zu dem Jolo ganz unvermittelt Zugang hat, und wozu sie keine lange dunkle Geschichte zu erzählen hat? Wenigstens spielt Jolo so, dass sie eine unmittelbare Sehnsucht nach Liebe und Geliebtwerden ausdrückt. (Ihre dunkle Seite spielt Jolo fast gar nicht, die drückt ihr die Musik auf – finde es auch etwas übertrieben einseitig gespielt, dass sie sich von den Piraten gar nicht verschrecken lässt.)
Ich deutete oben an, die versteckte Osternummer im letzten Lied könne etwas zur Klärung von Jolos Charakter beitragen und ihrem Ende die Tragik nehmen, dass sie das kleine bisschen Freundschaft, das sie im Zeltlager gewonnen hat, bei der Zeitreise des Schiffes schon wieder verloren hat. Für mich singt sie also „Du wirst den Tod in uns (wandeln in Licht)“, also, dass selbst aus diesem Ende der Freundschaft etwas Gutes werden kann, weil da eine Kraft präsent ist, die man mit du anreden kann (Herr, Meister, Bruder – so hat man biblisch zu Jesus gesagt) „… Denn du stehst auf …“, in Kathi Stimmers Lied eine Anspielung darauf, dass Jesus nach seiner Ermordung nur zwei Tage im Grab gelegen haben soll und dann in einer Art und Weise, von der man nichts weiß, auf(er)stand. Im Stück steht Jolo nach ihrem Lied auf, als Rosi sie anspricht. Während des melodramatischen Liedes saß sie, jetzt steht sie. Wenn sie so etwas wie die Geschichte Jesu zu erzählen hat, dass sie tot war und tatsächlich wegen ihrem Stern oder sonst etwas wieder lebt, klingt ihre Geschichte von der Liebe immer noch etwas komisch, sie hat dann jedenfalls etwas erlebt. Aber vielleicht muss sie gar nichts zu erzählen haben. Vielleicht genügt nur diese Geste, dass sie aufsteht und aus dem Schiffsgrab herausspringt. In der Sprache der Sakramententheologie (von der ich nur wenig verstehe) gesprochen: das Sakrament des Aufstehens. Sooft ihr’s tut, verkündet ihr Tod und Auferstehung des Herrn. Ihr dient dabei der Einheit der Menschen mit Gott und der Einheit der Menschen untereinander. In der einfachsten Geste, Aufstehen nach dem Traum, das Aufstehen am Morgen (das Aufstehen vielleicht nur, weil man mal muss), steckt die Geschichte der Liebe: „Du wirst den Tod in uns wandeln in Licht“, es wird alles verwandelt. Schau nur genau hin, frag dich zum Beispiel „Von was träumst du, wenn es dunkel wird?“

2 Responses to “Mary Reed und Jolo”

  1. Woods Says:

    Hallo Matthias,

    findest du nicht, dass deine Interpretationen für ein ausdrücklich für Kinder geschriebenes Stück etwas zu weit gehen?

    Ich denke, die Kinder haben in erster Linie (wie übrigens auch die Akteure) einfach unglaublich Spaß am Stück und wenn sie dann noch die Erkenntnis mit nach Hause nehmen, dass es im Leben wertvollere Dinge gibt, als nur materieller Besitz, dann hat das Stück doch schon ganz schön was erreicht, oder ?

    Und die bereits großen „Kinder“ können sich ja dann gerne auch etwas tiefere Gedanken dazu machen.

    Gruß,
    Woods

    PS: Die Rezension zum Stück ist sehr gut gelungen!

    • fangtunsdoch Says:

      Meine Interpretation ist nichts für Kinder, aber die kommen so nicht in Versuchung, einen solchen Wust von Text zu lesen. (Ich habe tatsächlich überlegt, ob ich der Interpretation den Titel „292“ gebe.)
      Das Stück ist, soweit ich es sehe, nicht nur für Kinder geschrieben, sondern für die ganze Familie. Wie alles hat es einen großen unterbewussten Untersatz, in den man mehr oder weniger hineingraben kann. Eine Interpretation gehört aber auch immer ein bischem dem, der sie schreibt.
      Und wer schreibt, schreibt komischerweise (fast) immer am meisten für sich. Und ich hab halt Spaß am Stück, wenn ich solche Sachen erfinde. Und hoffe, dass mir jemand widerspricht (die Rezension ist viel mehr wasserdicht als dieser Text).
      Glaube auch nicht, dass es so einfach ist, was man nach Haus nimmt und was nicht. Zum Beispiel nimmt man oft eine Musik nach Haus – und an der Musik des Schlusslieds bin halt ins Grübeln gekommen.
      Übrigens, mein lieber Pirat, jetzt sollte natürlichlich noch die Interpretation der Piratannummer folgen, ich hab ein paar Ideen, aber wohl leider keine Zeit. (z.B. über das sprachlich geniale „Potzpadauz“ oder Unstimmigkeiten, als ihr „Land in Sicht“ sangt, als ihr schon an Land wart, da passten auf einmal Text und Musik nicht mehr und ich hab es auch nicht geschafft, das als eure Dummheit zu lesen. Aber das ist wirklich 292 – gegenüber euren wirklich satten, glatten 300 Jahren)


Hinterlasse einen Kommentar