Kassandra Christa Wolf

6. März 2017

Hat es 1982 jemand geglaubt, dass Troja untergehen wird? Dass die DDR untergehen wird? Dass Christa Wolfs Kassandra Prophetin in dieser Richtung ist, habe ich beim ersten Hören des Hörbuches nicht vernommen, ich fand diese eigentlich offensichtliche Deutung hier. Und sie war Prophetin der DDR, nicht des Westens.

Die zitierte Deutung von „angel“ scheint mir auch sonst recht präzise. Diese Frau hat in der DDR-Zeit das 1983 erschienene Buch wie eine Bibel gelesen. Da fand sie ihre Verzweiflung als DDR-Oppositionelle. Aber auch die Deutungen, die sie heute sieht, sind recht spannend:

Kassandra – obwohl leidend an der Willkür und Dummheit von Eumelos und Priamos – lehnt jedes Helden Tum ab. Helden aber sind gerade jene Menschen, die anspruchsvolle Ziele haben und diese beharrlich verfolgen.

Kassandra, könnte man wohl sagen, hat kein Ziel. Wohl aber hat die Kassandra der Christa Wolf Werte. Hoch angesetzte Werte, an die sie sich unerbittlich hält. Da gleicht sie Aineais. 

Was aber nicht stimmte an der Prophezeiung: so brutal, wie Kassandra es in Troja vorhersagte und erlebte, war die westliche Seite, wie sie Christa Wolf 1989 erlebte, nicht. Christa Wolf wurde nicht vergewaltigt und umgebracht, sie starb friedlich und viele Ex-DDR-Troerinnen und Troer von damals leben noch heute und fanden ihren Frieden – ohne dass sie mit Aineais ausgewandern mussten.

Eine weitere Sache: So sehr ich angels Bemerkungen nachvollziehen kann. Für mich ist Kassandra eine Heldin. Eine Heldin des gewaltfreien aktiven Widerstandes, wie Jesus, Ghandi oder Martin Luther King (nur eben, dass sie keinen Erfolg hat und fiktiv ist). Sie ist eine Heldin, die kreative Lösungen für verfahrenste Situationen hätte. Aber ihr Schicksal ist, dass sie keinen Erfolg hat. (Und selbst das ist nicht das Schlechteste. Wenn ihre leise Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod, wie sie sie kurz vor dem Sterben angesichts ihrer Liebe zu Aineais äußert, nicht trügt, dann, so schreibt sie, wird sie Aineais am Schmerz erkennen. Der Schmerz, die Wunde, ist auch das Kennzeichen Jesu, der dieses sterbliche Leben hinter sich gelassen hat, für seinen Jünger Thomas.)

Dieser Spur gehen wohl Wolfs Poetikvorlesungen nach. Im www berichtet Dieter Schrey darüber:

In den Poetik-Vorlesungen stellt sie die Frage: „Wann hat es angefangen?“ (V 135f.) Diese Frage setzt unausgesprochen die Annahme voraus, dass es einen solchen Anfang überhaupt gegeben hat, sowie, dass davor eine Zeit wirklich existiert hat, die durch nicht-destruktives menschliches Handeln charakterisiert gewesen ist. Das ist zunächst einmal eine historische Hypothese! Mit dieser geht die Autorin dann an die geschichtlichen Dokumente und an historische Darstellungen heran – Homers „Ilias“, Dramen von Aischylos und Euripides, über 100 wissenschaftliche Bücher, die sich mit der frühen Geschichte rund um die Ägäis beschäftigen. Mit der Hypothese ist dann ein gedanklicher Dreischritt verbunden: (1) Wenn sich bei dem Quellenstudium herausstellen sollte, dass es zu Beginn, am Ursprung zwar nicht der gesamten Geschichte, aber in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit am Ursprung der sog. abendländischen Geschichte menschenmöglich gewesen ist, nicht aus „Eigenliebe“, nicht-aggressiv-destruktiv zu handeln, und dass (2) diese ursprüngliche Möglichkeit später dann durch eine bestimmte – ja, sündenfallähnliche Entwicklung verlorengegangen ist, z.B. in der durch Achill und Agamemnon repräsentierten Zeit, dann müsste es doch auch möglich sein, (3) jetzt oder in naher Zukunft aus der bisherigen, mehr und mehr auf eine Katastrophe zusteuernden Entwicklung „auszusteigen“, indem man sich neu am Ursprung, orientiert, den vor Zeiten gemachten historischen Fehler identifiziert, korrigiert und auf diesem Weg den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. Das „war meine Fragestellung der letzten sieben Jahre. Und der letzte, weiteste Schritt zurück in die Frühgeschichte [im Zusammenhang mit „Kassandra“] ermöglicht mir, merkwürdig oder nicht, zugleich ein Vortasten in die Zukunft, um die es ja, wenn ich über Vergangenes erzähle, eigentlich geht.“ (Gespr. m. J. Grenz, a.a.O.).

Es gibt da vorsichtige Spekulationen bei Wolf, dass dieser Übergang mit dem Untergang des Matriarchats oder dem Siegeszug enthumanisierender Technik zusammengeht, aber sie bleibt wohl bei ihrer Vorsicht. Dazu Dieter Schrey:

Der irgendwo in der Zeit zwischen 1.500 und 1.200 vor unserer Zeitrechnung verortete Kassandra-Mythos könnte als poetischer „Versuch eines Modells“ ohne Beweischarakter dienen, als Versuch, der Gegenwarts-Gesellschaft eine „lebbare Alternative“ (V 122), etwas Authentisches entgegenzusetzen.

Da gibt es zunächst die Frauen, die versteckt in den Bergen wohnen, auch griechische Skavinnen sind hier willkommen:

Frauen am Skamander, die eine alternative, „matriarchalisch“ orientierte Lebensform erproben. In Gemeinschaft mit diesen Frauen lebt sie in den letzten „zwei Sommern und zwei Wintern“ des Kriegs ein Leben, das sich in jeder Beziehung von ihrem früheren Palast-Leben unterscheidet: Es ist ein Leben in Armut auf der Basis der Selbstversorgung, in „Heiterkeit, die niemals ihren dunklen Untergrund verlor“. (K 157) Die Frauen erfreuen sich an ausgiebigen Gesprächen, am gegenseitigen Erzählen und Deuten der Träume, an gemeinsamem Gesang und vor allem an vielfältiger künstlerischer Betätigung

Dann, was spezifisch Kassandra betrifft, und was natürlich an ihr fasziniert:

„die Gabe der Einfühlung“ (K 127), von der Anchises einmal spricht und die er bei den Griechen vermisst. „Es ist das Geheimnis, das mich umklammert und zusammenhält [bekennt Kassandra vor Mykene], mit keinem Menschen habe ich darüber reden können. Hier erst, am äußersten Rand meines Lebens, kann ich es bei mir selber benennen: Da von jedem etwas in mir ist, habe ich zu keinem ganz gehört […].“ (K 6f.) Sie kann z.B. sagen, dass sie „Aineias – nein, nicht nur verstand: erkannte. Als sei ich er“ (K 7) und: „Ich war Hektor“ (als Achill ihn erstach, verstümmelte, um die Burg schleifte) (K 133 f.). Von jedem Menschen, mit dem Kassandra zusammentrifft, hat sie schon immer – aufgrund eines „absoluten Gehörs“ (K 41 f.), einer umfassenden Resonanzfähigkeit – einen Anteil in sich [sagt sie]. In entscheidenden Augenblicken, die nicht vorhersehbar sind, wird dann aus der Vielstimmigkeit dieser Anteilnahmen eine einzige „Stimme“, die eine grundlegende, umstürzende „Erfahrung“ ausspricht, eine Wahrheit jenseits aller berechenbaren Wahrscheinlichkeit, jenseits des Entweder-Oder von Wahrheit und Lüge, jenseits alles „Sichtbaren, Riechbaren, Hörbaren, Tastbaren“: „Wehe, wehe. Laßt das Schiff nicht fort!“ Oder: „Wir sind verloren. Weh, wir sind verloren.“

Spannende Rekonstruktionen, wie sich Welterkenntnis und Selbsterkenntnis entsprechen, dann kommt Schrey endlich auf die pazifistischen Aktionen zu sprechen.

Kassandra braucht mehrere Stufen ihrer Entwicklung bis zu dem Punkt, an dem Selbsterkenntnis und Durchschauen der troischen Wirklichkeit ‚reif‘ sind. Sogar noch, nachdem sie abgerechnet hat mit „Hekabe. Priamos. Panthoos. So viele Namen für Täuschung. Für Zurücksetzung. Verkennung. Wie ich sie haßte. Wie ich es ihnen zeigen wollte“ (K 75) – dennoch verharrt sie noch immer wenn nicht in „Übereinstimmung mit den Herrschenden“, dann in „Anhänglichkeit“ an Troia und die Troer (K 76/65), ihre Landsleute, mit denen sie die Wunsch-Gewissheit teilt „Wir gewinnen“ (K 84) – bis dann am ersten Tag des Kriegs ihr Bruder Troilos von Achill brutal misshandelt und umgebracht wird. Da setzt sie es durch, im troischen Rat gehört zu werden: „Verlangte, diesen Krieg zu endigen, sofort.“ (K 90) Priamos, der Vater, lässt sie hinauswerfen. Erst jetzt sieht Kassandra nicht nur, wie die Dinge stehen, sie handelt zum ersten Mal entsprechend ihrer Einsicht. Ein zweites, ein drittes Mal wendet sie sich an den Vater, den König, der den Krieg noch verhindern könnte. Beim dritten Mal, als es um das Opfer ihrer Schwester Polyxena geht, wird sie nach ihrem dreimaligen „Nein“ nicht nur hinausgeworfen, sondern wegen „Feindbegünstigung“ in einem finsteren Verlies für lange Zeit ‚kaltgestellt‘. Erst hier erlebt sie in „einem Schmerz, der nicht mehr weh tut, weil er alles ist“, den endgültigen „Verlust all dessen, was ich »Vater« nannte“ (K 153) – „Vater“ persönlich, menschlich, politisch, kulturell, weltanschaulich.

Ist sie zu wenig kreativ, dass sie nichts erreicht? Kann sie zu wenig vom Hass lassen? (Ich denke, sie hat trotz gegenteiliger Worte keinen wirklichen Hass auf ihre trojanische Familie, sondern vor allem ist sie von ihnen zutiefst enttäuscht.) Ist Priamus zu verblendet… der falsche Ansprechpartner? – immerhin: Kassandra konnte widersprechen, ohne getötet zu werden. Das erspart ihr nicht die Vergewaltigung durch Aias am Tag der Niederlage, doch immerhin die durch Agamemnon.

Ich weiß auch nicht, warum Kassandra manches Wahrsprechen als allergrößte Fehler bezeichnet. Ich denke ja, dass die Liebe und die Gewaltlosigkeit das Bloßlegen der nackten Wahrheit nicht ausschließt.

Hab vergessen, dass es um die Kassandra heute geht. Die kreative Gewaltlosigkeit heute. Trotz der Rhetorik, dass sie keinen Vater mehr hat, als Priamos sie verstößt, hat Kassandra natürlich Anchises, als Ersatzvater, und sie hat viele Mütter in den Bergen. Sie hat den Mann, der sie liebt und den sie selber liebt. Und sie hat das – ich würde sagen: heilige – Einfühlen, das vielleicht intensiver ist als alles, was in der Ilias geschildert wird. Langfristig sollte diese Wirklichkeit den Sieg davontragen – ob sie jetzt mehr mit der Naturgottheit Kybele oder der scharfen Vernunft zu tun hat?

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